top of page

KURZGESCHICHTEN UND PARABELN

| Kurzgeschichten |: Willkommen
| Kurzgeschichten |: Dienstleistungen
snow-man-3008179_960_720.jpg

AUS WEIHNACHTSAUGEN

Von einem Wichtel in Ausbildung, 2017

Ich spürte, wie die Aufregung in mir wuchs. Sie packte mich mit ihren großen, dürren Händen und riss an meinem Körper. Über die hölzerne Seitenwand starrte ich nach unten auf die weiße Landschaft. Schnee war auf kleinen Flecken der Welt oder als ganzer Teppich verteilt, die Zuckerglasur zog sich über alles und jeden und leuchtete uns auch noch zu dieser Uhrzeit den Weg aus. Eine zuverlässigere Lampe gab es nicht. Wenn der Zauberglanz des Heiligen Abend auf sie traf, begann die weiße Masse aufgeregt zu funkeln.
Als er sah, wie ich ganz fasziniert aus dem Schlitten starrte und mich ein Stück herausbeugte, musste er leise lachen. Dabei wackelte die Knollnase erfreut mit.
„Ich wusste, es würde dir gefallen, mitzufliegen.“
„Es ist wundervoll“, quiekte ich, ohne mich zurückzuhalten. Ich spürte bereits, wie mir nach diesen wenigen Minuten des weihnachtlichen Fluges zwar die Kälte in die Wangen, aber Wärme ins Herz kroch.
„Dann warte erst, bis wir landen. Gleich sind wir im ersten Dorf.“
Erwartungsvoll beugte ich mich weiter heraus. Meine Augen konnten gar nicht genug von der Welt bekommen, die so ruhig und still vor sich hin atmete. Auf den Wegen war kein Mensch zu sehen und keine von diesen großen, lauten Maschinen. So friedlich wie heute hatte wohl kein Lebewesen die Welt jemals gesehen.
Es war schon etwas Anderes, ihn bei seiner wichtigsten Aufgabe zu begleiten, anstatt die Augen Tag um Tag auf ein ratterndes Fließband zu heften und die Spielzeuge zu überprüfen, obwohl auch die Weihnachtswerkstatt einige witzige Ablenkungen bereithielt.
Jetzt flogen wir also, begleitet vom Klingen der Glöckchen, die die Rentiere an ihren Geschirren trugen, unserem ersten Ziel entgegen. Um uns nur die halbdunkle, sternenreiche Nacht und silbern-graues Mondlicht.
Ehe ich mich versah, war das erste Dach unter uns. Es war ein kleines Haus, das von oben zunächst winzig wirkte. Verschlafen blickte es uns durch die Schneedecke an. Doch in eiligem Tempo schossen wir auf den Giebel zu – ich musste meine Mütze festhalten, um sie nicht im Flugwind zu verlieren. Aber er lachte nur sein fröhliches, tiefes Lachen und zog schließlich die Zügel an. Die Rentiere hielten, ich musste nach diesem rasanten Sturzflug erst einmal ausatmen.
Schon war er aus dem Schlitten gesprungen und vom Dach gerutscht. Verwundert blinzelte ich dem Weihnachtsmann hinterher. Besonders sportlich sah er ja nicht aus, darum überraschte mich der riesige Satz mit dem er ausgestiegen war. Und dann noch der schwere Geschenkesack auf seinem Rücken...
„Komm, wir sind spät dran!“
Ich stieg vorsichtig über die Holzwand hinweg und setzte meine kleinen Füße auf den Dachziegeln ab. Als ich stand, verspürte ich eine neugewonnene Sicherheit, sodass ich, schon ein wenig unachtsamer, einen Schritt vorwärts tat. Doch die Ziegel waren glattgefroren – ich rutschte aus und schob, bevor ich selbst vom Dach segelte, einen Berg Schnee vor mir herab. Der Weihnachtsmann wurde unter der weißen Masse begraben. Ich selbst landete etwas unsanft auf dem Hinterteil im Vorgarten und starrte erschrocken vor mich hin. Nach einigen Sekunden in denen ich gestarrt und er keinen Mucks von sich gegeben hatte, rappelten wir uns beide auf und sahen uns verdutzt an. Seine Knollnase und die Backen waren jetzt rot.
„Entschuldige“, flüsterte ich.
„Keine Zeit, keine Zeit. Komm, wir gehen durchs Kellerfenster hinein.“
Ich blinzelte.
„Durchs Kellerfenster? Nicht durch den Kamin?“
Er lachte nur – es war sein herzliches, warmes Lachen.
„Nein, nein, dass mach ich schon lang nicht mehr. Zu schmutzig und zu eng. Aber die Eltern der Kinder wissen das. Die meisten sind so nett und lassen mir ein Fenster offen.“
Während er das erklärte, stapften wir gemeinsam um das Haus herum. Die kleine Fichte im Garten sah uns leise dabei zu. Zumindest hatte es diesen Anschein.
„Siehst du, da.“ Er wies mit dem Kopf auf eine kleine verglaste Öffnung in der Mauer. Sie war aber wohl immer noch etwas größer als eine Schornsteinöffnung. Wie vorher vermutet, stand das Fenster offen.
Mit ein wenig Anstrengung war es mir nur Herzschläge später gelungen, ihm hindurchzuhelfen (oder besser ihn hereinzupressen) und mit vereinten Kräften hatten wir es sogar geschafft, den Sack hindurchzuzerren. Wir schlichen also auf Zehenspitzen die Kellertreppe hoch und gelangten in einen langen Flur. Eine leise Melodie dudelte schläfrig vor sich hin. Meine Haut begann zu kribbeln, die Aufregung war wieder da. Ich wagte es kaum zu atmen.
„Da vorne links ist das Wohnzimmer“, flüsterte er mir zu. Ich nickte und machte mich auf den Weg. Glücklicherweise knarrte die Tür nicht, als ich öffnete.
Vor uns breitete sich ein heller, großer Raum aus, der überall mit kleinen Lichtern ausgeleuchtet war. Auf dem Tisch stand ein Teller mit duftenden Weihnachtskeksen und das Radio, von dem die Musik stammte, war auf der alten Holzkommode platziert. Unbeschwertheit überkam mich und ein kleines Lächeln stahl sich auf unsere Gesichter. Gemeinsam gingen wir zum Weihnachtsbaum heran und zogen nach und nach die richtigen Geschenke aus dem Sack heraus. Während ich sie so platzierte, dass ihr Anblick schon Lust aufs Auspacken machen musste, öffnete der Weihnachtsmann ein Stubenfenster. Zufrieden betrachtete ich den Baum noch einen Moment lang. Die silbernen Kugeln waren mit kleinen Bildern verziert, die Rentiere, Schneemänner oder den Weihnachtsmann selbst zeigten. Hier und da war ein kleiner Strohstern versteckt, die Lichterkette wand sich um die Zweige und das Bild wurde durch den Silberstern an der Spitze des Baumes komplettiert.
„Es ist schön, nicht wahr?“, fragte er, der mit den eigenen Augen meinen Blicken gefolgt zu sein schien. Ich nickte und spürte die besinnliche Wärme, die sich überall im Zimmer und in mir breitmachte. Aber diese Beschreibung konnte mein Gefühl nicht im Mindesten einfangen.
Dann ging ich zu ihm ans Fenster heran. Er stieg hindurch – dieses Mal war es etwas einfacher. Als er verschwunden war und ich den Fuß schon auf dem Fensterbrett hatte, drehte ich mich noch einmal um. Es war der erste echte Weihnachtsbaum, den ich jemals gesehen hatte und ich konnte nicht leugnen, dass er einen Zauber ausstrahlte.
Doch da erblickte ich einen kleinen Körper, der vor der Tür stand. Es war ein Mädchen im hellblauen Nachthemd, den Teddy in der Hand. Ihre großen, braunen Augen lugten durch den Türspalt. Ich zwinkerte ihr zu und biss in einen Keks, den ich mir vom Tisch mitgenommen hatte. Da musste sie ebenfalls lächeln. Sie lächelte mich an wie jemanden, mit dem man ein Geheimnis teilte. Und nichts auf der Welt war wertvoller als dieses Lächeln, nichts eine schönere Weihnachtsfreude, als die leuchtenden Augen dieses kleinen Mädchens.
„Fröhliche Weihnachten“, flüsterte ich zu mir selbst und entschwand zurück in die weiße Welt.

bottom of page